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26.04.2018 Kategorie: Angedacht

Gebetsteppich

Jederzeit und überall

Ein frühsommerlicher Sonntagabend im April. Draußen zieht ein schweres Gewitter auf. Der frische Wind bläst die Blütenblätter durch die Straßen, am dunklen Himmel zucken nervös die ersten Blitze. Ich sitze im Flur vor der Notaufnahme der Holwedestraße. Mein Fahrdienst war heute Abend gefragt, nicht mein Pfarrdienst. Oder vielleicht doch? Ich kann an der langen Reihe der Wartenden entlangblicken. Es geht nicht vorwärts. Es ist Tagesschauzeit, aber manche warten hier schon seit dem Nachmittag. Mein Smartphone hat kaum Empfang, ein Buch habe ich nicht dabei. Also warte ich im langweiligen, trostlosen Flur. Abwechslung bieten die neu eintreffenden Patienten und eine aufgeregte Angehörige, die einen Fahrstuhl sucht. Der freundlich grüßende Wäschewagenfahrer hebt meine Laune. Nach zwei Stunden Nichtstun fällt mir ein, was ich tun kann: Beten. Hätte ich ja auch schneller darauf kommen können. Also bringe ich meine unfreiwillige Sonntagabendgemeinde vor Gott: Die ältere Dame mit Einkaufstüte und Schirm, der ich nicht ansehe, was ihr fehlt; das junge Pärchen mit dem quengelnden Kind; den jungen Kerl mit seiner Armschiene, der die Warterei nicht mehr aushält und froh ist, als endlich sein Kumpel kommt und Beistand leistet; den mediterranen Muckimann im Muskelshirt, der sein Handgelenk kühlt; den Jungen im Konfirmandenalter, der seiner Mutter per Telefon berichten muss, dass sein Vater und der verstauchte Knöchel seines Bruders noch etwas Zeit brauchen; die Schaffnerin mit ihrem Trolley, die es mit einem hangreiflichen Fahrgast zu tun bekommen hat; den Vater, der seinen kleinen Sohn mit Ellenbogenverband wecken muss, als die Pflegerin ihn endlich aufruft; die beiden Angetrunkenen, die für längere Zeit wieder verschwinden; das medizinische Personal, das schon längst auf Ablösung wartet. Ich bitte um Besserung, Heilung, Geduld und knüpfe ein Netz guter Wünsche, einen Gebetsteppich, der die Not in der Notaufnahme aufnehmen soll. Ich merke, wie für mich die Zeit schneller vergeht, das Gewitter endlich abzieht, alle ruhiger und gelassener werden und die freien Plätze zunehmen. Vielleicht war es ja gut, dass mein Smartphone kein Netz und ich kein Buch dabei hatte. So konnte ich Fahrdienst und Pfarrdienst verbinden. Für das Beten braucht man nicht einmal einen Führerschein. Wenn Sie bis hierher gelesen haben, können Sie auch beten: Jederzeit und überall und einen Gebetsteppich knüpfen für alle, die Sie lieben. Und für die anderen übrigens auch.

sokaeiko / www.pixelio.de

Beitrag von Pastor Frank Wesemann