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05.08.2024 Kategorie: Angedacht

Unterschiedlichkeit

Schauen wie Jesus

Wer mit der Deutschen Bahn fährt, hat danach meistens etwas zu erzählen. Für mich ging es im Urlaub einmal von Reutlingen nach Stuttgart. Unterwegs Richtung Bahnsteig, kam mir im Bahnhof als erstes ein junger Mann entgegen, der sich nach offensichtlich übermäßigem Genuss von Hochprozentigem kaum noch auf seinen Beinen halten konnte. An einem Mittwoch gegen 13.15 Uhr. Der Zug kam pünktlich (!), alle stürmten rein. Da viele Sitze schon besetzt sind, nehme ich den erstbesten in Fahrtrichtung. Alles sortiert sich, der Zug fährt ab. Neben mir ein älterer Inder, der sich sein Smartphone an das Ohr hält und irgendeiner lebhaften Quiz- oder Nachrichtensendung lauscht. Ich bin dankbar, dass er nicht auf Lautsprecher gestellt hat, obwohl ich auch so alles hören konnte. Könnte ich seinen indischen Dialekt sprechen, hätte ich es sogar verstanden. Ab und zu gab sein Gerät plötzlich laute Töne von sich, was niemanden zu stören schien. Einmal fiel es krachend auf den Boden, was auch keinen weiter interessierte. Ihm gegenüber saß eine adrette ältere Dame mit Koffer, der von unseren Knieen sicher eingekeilt wurde, damit er nicht wegrollte. Sie las angestrengt in ihrer Zeitschrift, schaute über ihre Brille hinweg mal streng zum Inder, dann zu mir und wieder in ihren Lesestoff. Ich stellte mir vor, dass sie als pensionierte Lehrerin eine wertgeschätzte Kollegin besuchen wollte - oder ihr drittes Enkelkind. Neben ihr nahm etwas verspätet ein junger Mann Platz, der höflich gefragt hatte, ob der Platz noch frei ist. Kaum saß er, fielen ihm die Augen zu. Ich tippte auf eine asiatische Herkunft. Denn er war nicht sehr groß, höflich und hatte Oberarme wie aus der Muckibude. Ich stellte ihn mir in einem Sushi-Restaurant in Stuttgart vor, wie er im Küchenbereich die Fische klein hackte und sie schmackhaft zubereitete. Links von mir über den Gang in derselben Fahrtrichtung wie ich ein Schwarzafrikaner, der lässig in seinem Sitz lag, sein Cap über das Gesicht gezogen hatte und seinen Nachtschlaf nachholte. Ich fragte mich nicht nur, wie seine Nacht wohl gewesen war, wenn er jetzt schlafen musste, sondern auch, ob es derselbe Mann war, der auf meiner letzten Zugfahrt vor einem Jahr genauso da gelegen und geschlafen hatte. Ihm gegenüber saß ein Typ wie aus einer düsteren Krimi-Serie. Wahrscheinlich mein Alter, aber älter aussehend. Die Jahre im Gefängnis, vielleicht auch Drogenerfahrungen, hatten ihn hart gemacht. Und furchteinflößend. Männer wie er bekommen im Film die Rolle des für die kolumbianische Drogenmafia arbeitenden Serienkillers. Zumindest in meiner Fantasie. Vor sich eine kleine Reisetasche mit gerade genug Platz mit dem Nötigsten für einen Auftrag im Hinterhof in einer großen Stadt – und eine illegale Waffe. Mich beunruhigte etwas, dass ihn der laute Inder neben mir zu nerven schien. Aber außer eines geringschätzigen Blickes hatte er nichts für ihn übrig. Auch keine Faust und keine Kugel. Er war kurz vor Stuttgart der erste, der den Wagen verließ. Ein paar Reihen vor mir zwei jüngere Damen, die zusammen ankamen, aber nicht nebeneinander sitzen konnten. Eine freundliche Dame sprach sie an und ich vermute, dass die beiden aus der Ukraine stammten. Und dann war da noch der obligatorische junge Mann, der im Zug irgendein geschäftstüchtiges Gespräch mit irgendeinem Kollegen führen musste und dabei so klischeehaft herumvokabelte, dass es selbst mich nervte. Aber nur kurz. Denn knapp vor der Einfahrt dämmerte mir, wie Jesus wohl die Menschen angesehen hätte. Wie er tiefer und liebevoller geblickt und bestimmt ein nettes Wort zu jedem gefunden hätte. Und ich lernte etwas über Unterschiedlichkeit. Oder Diversität, wie man heute sagt. Egal, wo man herkommt; egal, wer man ist; egal; wo man hingeht: Jeder Mensch darf die Gnade Gottes ergreifen. Denn die Würde eines jeden Menschen besteht darin, dass Jesus auch für ihn gestorben und auferstanden ist.

Foto: Engin Akyurt / www.pixabay.com

Beitrag von Frank Wesemann