Morgens um 9.00 in Wendeburg. Nach neun Glockenschlägen werfen die drei Motoren unsere drei schweren Glocken an. Eine nach der anderen schwingt sich auf zu durchdringendem Geläut. Auf dem Parkplatz, vor der Bank, in der Apotheke stecken die Einwohner die Köpfe zusammen: Wer könnte jetzt gestorben sein? Nach Art der Autobahngaffer hält man inne: Wer war so schlecht drauf, dass er nun ... . In Windeseile wird getratscht, wen es wohl getroffen haben könnte. Manche halten ihre Neugier kaum im Zaum und greifen zum Telefon. Der Küster muss es doch wissen. Oder einer unserer Bestatter. Ach, der, ja, oder: Den kenne ich gar nicht. Betroffenheit oder Erleichterung macht die Runde, je nach dem. Hauptsache, man weiß es als erstes und kann es gleich weiter sagen.
Nein, diesen Sinn hat das Sterbegeläut nicht. Es besitzt wohl andere Funktionen: 1. ja, es informiert das Dorf, dass vor wenigen Stunden ein Mitglied der Kirche verstorben ist. 2. wird es von den meisten Angehörigen sehr gewünscht, weil sie aus dem Läuten Trost schöpfen: Unser lieber Verstorbener zieht nicht mit Blaskapelle, Marschmusik oder Helene Fischer, sondern mit Glockengeläut in den Himmel. Der Turm, in dem die Glocken hängen, gibt die Richtung vor: Richtung Himmel. 3. holt das Sterbegeläut morgens um 9.00 in Wendeburg den Tod ins Leben hinein, das Sterben in den Alltag, die Trauer in den Morgenspaziergang, den Schmerz an die Bushaltestelle. Alle, die es hören, bekommen die Gelegenheit, einmal inne zu halten, ihr Leben zu bedenken, vielleicht ein kurzes Gebet zu sprechen, ihren eigenen Tod vorzubereiten und mitten im Leben das eigene Sterben nicht zu verdrängen. Denn nichts ist so sicher wie unser eigener Tod. Wir können ihm nicht entkommen, aber wir können ihn ein wenig vorbereiten. Unseren Verwandten ist es eine Hilfe, wenn sie wissen, wie wir uns unsere Trauerfeier vorstellen und wie wir bestattet werden wollen. Sie werden so traurig sein, dass sie unsere Hilfe schätzen werden und wir ihnen so, obwohl wir nicht mehr leben, einen großen Liebesdienst erweisen. Diesen Sinn hat das Sterbegeläut sicher auch. Nicht nur morgens um 9.00 in Wendeburg.

Martin Genter / www.pixelio.de