Da sich mein Leben wie jedes andere Leben auch dem Ende nähert, wollte ich noch einmal etwas machen, was ich immer schon vorhatte: Ein Besuch bei Pop meets Classic in der VW-Halle in Braunschweig. Beim Eingang war für uns extra ein roter Teppich ausgerollt. Dachte ich zumindest, bis man uns freundlich zum normalen Eingang weiterleitete. Spontan überflutete mich eine Dankbarkeit, dass es im Himmel keine schnöseligen VIP-Gäste gibt, sondern für Gott alle gleich wichtig sind. So wichtig, dass Jesus für jeden sterben musste und jedem das Angebot ewigen Lebens macht. Auch für schnöselige VIP-Gäste und alle, die sich solch ein Konzert nicht leisten können. Beim Reingehen wurden wir wie bei einem Hochrisiko-Konzert aufmerksam kontrolliert. Dabei gab es doch nur Pop und Klassik statt Rammstein. Es wurde in die Handtaschen geschaut, die ohnehin nicht größer als ein DIN-A4-Blatt sein durften und auch meine Jacke musste ich freilegen. Nur abgetastet wurden wir nicht.
Nach dieser Erfahrung frage ich mich allerdings, wie sogenannte Fans ihren ganzen Pyrokram und Raketen in ein Fußballstadion schmuggeln können. Beim Derby an der Hamburger Straße wurde wieder viel gefackelt, Kinder traumatisiert, Ordner erlitten Knalltrauma und heimische Fans wurden mit Raketen beschossen. Daher wird die Frage erlaubt sein, wie Vollpfosten, die einen an der Latte haben, das Zeug in ein gesichertes Stadion bekommen. Wird bei der Kontrolle nicht so genau hingesehen wie bei einem harmlosen Konzert? Oder sind die Pyrologen einfach nur schlau und raffiniert? Die beiden Mannschaften wirkten jedenfalls angesichts der aufgeheizten Atmosphäre gehemmt. Das Spiel war entsprechend grausam und torlos. Was wäre es für ein Zeichen gewesen, wenn direkt vor dem Anpfiff die Spieler in der Spielfeldmitte einen Kreis bilden, sich an den Händen fassen, abwechselnd blaugelb und grün, und der Stadionsprecher dann in die hoffentlich eintretende Stille hineinspricht, dass es beim Fußball nur um ein Spiel geht, um Respekt, um Fairness, um vorbildliche Sportlichkeit, um ein regelkonformes Kräftemessen, bei dem der Bessere gewinnen möge - und nicht um Hass, Aggressivität und Brutalität.
Gelobt wurde die Choreo der Braunschweiger Fans zu Beginn. Aus dem Blaugelb der großen Fankurve entwickelte sich der Schriftzug KEINE GNADE. Da fehlten mir schlicht die Worte. Aus der Rechtswissenschaft kennt man Gnade als "die Befugnis, im Einzelfall eine rechtskräftig erkannte Strafe ganz oder teilweise zu erlassen, sie umzuwandeln oder ihre Vollstreckung auszusetzen." Ein Richter kann Gnade vor Recht ergehen lassen. Muss er aber nicht. Gnade zu gewähren, ist ein Zeichen von Stärke, nicht von Schwäche. Im Christentum ist Gnade eine der Grundeigenschaften Gottes. Die Gnade, die Gott dem Gläubigen bzw. der gesamten Menschheit ohne Vorbedingung schenkt, bildet den Kern der christlichen Botschaft. Man kann Gottes Gnade nicht verdienen, aber man darf sie sich schenken lassen. "Keine Gnade" im Stadion kann daher entweder heißen, dass die stärkere Mannschaft die schwächere mit einem hohen Sieg vom Platz fegen soll oder Fans gnadenlos aufeinander eindreschen sollen, bis sich der andere nicht mehr rühren kann. Da Letzteres nicht auszuschließen ist, sage ich: Keine Gnade mit Chaoten, Schlägern, Randalierern und Feuerwerkszündern. Es geht nur um ein Spiel, nicht um Leben und Tod. Beim Spiel hat Gnade wenig Bedeutung. Im Leben wie im Tod sind wir von ihr komplett abhängig, da wir sie uns nicht verdienen, sondern nur schenken lassen können: Die wunderbare Gnade Gottes, die uns freispricht, obwohl wir schuldig sind; die uns rettet, obwohl wir verloren sind; die bleibt, wenn wir vergehen: Amazing Grace!

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